Waltraud wurde wegen eines Selbstmordversuches im Alter von 14 Jahren in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingeliefert. Sie hat versucht, vom 7. Stock eines Hochhauses zu springen.

Aufnahmediagnose

Depression, suizidgefährdet, zahlreiche oberflächliche Schnittwunden an beiden Ober- und Unterarmen, Ein- und Durchschlafstörungen.

Waltraud wirkte sehr blass und farblos als sie zu uns in die Gruppe kam. Sie hat sich dort freiwillig nie zu Wort gemeldet. Sie saß mit unveränderter Miene fast bewegungslos da und sprach, wenn sie gefragt wurde, nur das Notwendigste und sehr leise. Sie wirkte auf mich sehr ängstlich und schüchtern.

Therapiebeginn

Waltraud kam gleich zu Beginn ihres Aufenthaltes zu mir in die Therapie und blieb gleich zwei Stunden lang. Ihre ersten Therapie-Einheiten waren gekennzeichnet von der Angst, dass sie mit der Zeichnung nicht fertig wird. Also schlug ich ihr vor, dass sie so lange bleiben darf, bis sie eben fertig ist.

In den ersten Therapie-Einheiten gebe ich grundsätzlich kein Thema vor. Waltraud wusste aber sofort, was sie malen wollte und begann mit ihrem ersten Bild, einer Meerlandschaft.

 Zu Beginn einer Therapie arbeite ich grundsätzlich resourcen-orientiert und vermeide jedes Thema, das zu sehr in die Tiefe geht. 

Die ersten Arbeiten von Waltraud waren gekennzeichnet von Perfektionismus. Sie malte oft stundenlang an einem Bild und verwendete dazu sehr feine Haarpinsel.

Waltraud erzählte mir, dass sie einen IQ von 143 habe – und darauf schien sie auch stolz zu sein. Nach einer Woche Therapie zeigte mir Waltraud erstmals ihre geritzten Arme und Beine. Sie hatte außergewöhnlich viele und teilweise recht tiefe Schnittwunden.

Wenn Waltraud in die Therapie kam, hatte sie bereits ein fertiges Konzept im Kopf und begann sogleich mit der Durchführung. Das Motiv erinnerte an die erste Meerlandschaft, jedoch leicht moduliert entstand ein Gesicht.

Sie betitelte es als „Zwei Augen und Mund“, wobei ein Auge zugekniffen war und der Mund etwas bedrohlich wirkte:

Das zweite Bild in dieser Therapie-Einheit war wiederum ein Gesicht, nicht vollständig, mit fehlendem Mund. Waltraud beschreibt ihr Bild folgendermaßen: „Ein Gesicht- nicht sehr detailliert und Schwerpunkt Haare.“ Ich frage sie, wofür die Haare symbolisch stehen könnten. Sie antwortet, als Symbol für „Feuer“. Das eine Auge steht als Symbol für „traurig“- wegen der Träne und als Symbol für „wahnsinnig“- weil es innen rot ist:

Waltraud beginnt sich nun von Stunde zu Stunde mehr zu öffnen. Auch thematisch begibt sie sich bereits auf unsicheres Terrain. In dieser Phase kommen ihre Eltern regelmäßig auf Besuch und auch immer wieder zu mir in die Therapie, um sich ihre Bilder anzusehen.

Erste Interventionen

Da Waltraud sehr oft mit einem fertigen Konzept zu mir in die Therapie kam und immer ganz genau wusste, was sie wollte, versuchte ich als nächste Intervention, mit ihr großzügigere und freiere Bilder zu malen.

Das Ergebnis war recht erstaunlich: es entstand ein Baum, aus dem seitlich ein zweiter Baum herauswächst. Zusätzlich steht dieser Baum in einer sumpfigen Wiese: der Baum spiegelt sich im Gras. Der Baumstamm ist gleich stark geritzt wie ihr linker Arm. Als ich ihr meine Beobachtungen mitteilte, reagierte sie verärgert. Sie glaube nicht, dass alles, was sie zeichnet, gleich etwas zu bedeuten habe. Sie betonte noch einmal : „Ich habe mir nichts dabei gedacht!“

Ungefähr zur selben Zeit entstand das Bild mit der Rose, wo ebenfalls eine zweite Rose aus der ersten hervor wächst:

 

 

Gefühle als Ausdruck des Seelenzustandes

Blockaden

Da Waltraud ihre Gefühle nur sehr schwer ausdrücken konnte, legte ich immer wieder kurze Übungen ein, bei denen ich sie etwas genau beschreiben ließ. Sie blieb jedoch immer sehr sachlich und es war mir nie klar, was in ihrem Inneren tatsächlich vor sich ging. Ihr Gesichtsausdruck blieb immer derselbe und je mehr ich versuchte, sie aus der Reserve zu locken, umso mehr verschloss sie sich. So beschloss ich, eine Doppelstunde lang nur über Gefühle zu sprechen. Ich besprach mit ihr sehr ausführlich verschiedene  Situationen aus ihrem eigenen Leben, wann und wo bei ihr positive bzw. negative Gefühle entstehen. 

Gefühle malen (Die Maske)

Als nächstes erhielt sie den Arbeitsauftrag, ein Bild zu malen über ihre Gefühle. „Zum Thema  `Gefühle’ sind mir sofort die Masken eingefallen. Wenn es einem schlecht geht, setzt man eine Maske auf und alle sehen, dass es einem gut geht.“

Ich: „Warum zeigst du es nicht, wenn es dir schlecht geht?“

Waltraud: „Ich will die anderen nicht mit runter ziehen mit meiner schlechten Laune, weil ich nichts davon habe, wenn’s den andern dann auch schlecht geht. Wenn man aber eine Maske aufsetzt, sind alle ganz freundlich und lachen mich an.“

Die Maske unter der Maske

Trotzdem bat ich sie, ein Bild darüber zu malen, wie es ihr unter der Maske wirklich ergeht. Das Bild wurde sehr abstrakt und erhielt den Titel : „Schwarz mit Pastelltönen“. Es war ihr offensichtlich sehr wichtig, ihre wahren Gefühle ja nicht preiszugeben.

Das Familiensystem

Da Waltraud aus einem sehr gut behüteten Elternhaus zu kommen schien und auch zu Gleichaltrigen einen sehr legeren Kontakt pflegte, erschien es mir immer rätselhafter, weshalb sie sich in der Gegenwart von Erwachsenen so ganz anders verhielt, nämlich extrem distanziert und indifferent.

Erste Wut im Bauch

In der darauf folgenden Woche hatte Waltraud eine sehr große Wut im Bauch, als sie bei mir in der Therapie erschien. Sie klagte: „Es geht mir noch immer gleich beschissen wie am Halloween-Tag, als ich vom 7. Stock springen wollte. Das macht mich wütend auf Dr. Grabner, weil ich ihm versprechen musste, dass ich mich zwei Wochen lang nicht umbringen werde.“

Ich fragte sie, was Dr. Grabner ihrer Meinung nach tun müsse, damit es ihr wieder besser erginge. Sie meinte, er solle ihr Tabletten verschreiben, die auch wirken, sodass sie sich besser fühle und keine Suizidgedanken mehr habe. Waltraud bittet mich, Dr. Grabner auszurichten, dass sie auf ihn wütend sei. Ich sagte ihr darauf klipp und klar, dass ich das nicht tun würde. Das müsse sie ihm schon selber sagen.

Fast im selben Moment ging die Tür auf und Dr. Grabner holte Waltraud zu einem Gespräch, auf das sie übrigens schon den ganzen Tag gewartet hat. Gleich nach diesem Gespräch kam sie zu mir zurück in die Therapie, um weiter zu malen. In dieser Stunde entstanden 4 Bilder, hier zwei davon:

 

 

Waltraud hat an diesem Tag für ihre Verhältnisse sehr viel von ihrer Wut preisgegeben und ist damit anschließend sehr kreativ umgegangen, indem sie ihre Gefühle sogleich in Bilder umgesetzt hat.

Mein Lebensweg

Den nächsten Durchbruch erlebte ich in einer Doppelstunde gemeinsam mit Susanne J., die ebenfalls wegen eines Selbstmordversuches in die Klinik eingeliefert wurde. Waltraud und Susanne waren sehr gute Freundinnen und hatten sich im Internet-Chat kennen gelernt. Erst viel später erfuhr ich, dass Susanne auf dieselbe Art und Weise Selbstmord begehen wollte wie Waltraud. Eine Zeit lang kamen sie getrennt zu mir in die Therapie. Da ich aber immer mehr in Zeitnot geriet, versuchte ich als Notlösung, statt der Einzeltherapie die beiden Mädchen gemeinsam in eine Doppelstunde zu nehmen.

Das Thema, das ich vorgab, war „Mein Lebensweg.“ Ich erklärte ihnen, wie sie diesen Weg zeichnerisch gestalten bzw. umsetzen sollen, entweder in Form eines normalen Weges inmitten einer Landschaft oder vereinfacht und symbolisch – wie beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel. Jedes Lebensjahr sollte als eigener Abschnitt zu erkennen sein:

 

Mobbing in der Schule

Als wir die einzelnen Lebensjahre besprachen, erzählte Waltraud das erste Mal vom Mobbing in der Schule. In der ersten Klasse Volksschule kam sie in eine Integrationsklasse und hatte panische Angst vor den Behinderten. Am ersten Schultag sei sie heulend auf ihrer Mutter gehängt. Zu guter letzt wurde sie genau zwischen zwei Behinderte gesetzt. Diese Angst habe sich allmählich wieder gelegt. In der 4. Klasse hatte sie bereits viele Freunde, gute Noten und angenehme Erinnerungen an die Schulzeit.

Nach der Volksschule kam sie in die Mittelschule. Dort wurde sie von Anfang an gemobbt. Der Lebensweg war auf beiden Bildern ab dem 10. Lebensjahr schwarz. Um über diese „schwarzen Lebensjahre“ mehr zu erfahren, sprach ich mit ihr in den folgenden Einheiten immer wieder über diese Phase des Mobbings.

Waltraud hatte mittlerweile keine Probleme mehr, sich mir anzuvertrauen und erzählte immer freimütiger über diese schrecklichen Jahre. In der ersten Klasse hatte es speziell ein Schüler auf sie abgesehen, der sich bei jeder Gelegenheit über sie lustig machte. Mit der Zeit wurden es immer mehr Mitschüler, die auf sie losgingen. Sie haben blöde Kommentare gemacht über ihre Kleidung, über ihre ruhige Art,… haben ihr die Stifte weggenommen etc. Sie konnte sich jedoch nicht wehren.

Es waren insgesamt 35 Schüler in der Klasse, davon nur 8 Mädchen. Die Burschen waren hyperaktiv und haben in der Pause “immer durchgedreht“.  In der 4. Klasse sei sie in ihrer Leistung bereits stark abgesunken. Deshalb habe sie auch die Schule gewechselt. Seit Herbst besuche sie eine Lehranstalt für wirtschaftliche Frauenberufe, welche mit Matura abschließt.

Magersucht, Depression, Suizid und Ritzen

Auf mehrmaligen Wunsch von Waltraud habe ich sie in einer Einheit mit Lebensmitteln malen lassen. Zur Verfügung standen Topfen, Eiklar, Senf, Ketchup, Hirse und Staubzucker. Als Unterlage dienten zwei große Kartons. Da sich nebenan gleich die Küche befand, konnte ich ihre Arbeiten glücklicherweise dort deponieren, denn die Endergebnisse waren sehr geruchsintensiv.

Einen Tag später hatte ich wieder eine Doppelstunde mit Waltraud und ihrer Freundin Susanne. Ich drückte beiden Mädchen einen Zettel in die Hand und bat sie, alles aufzuschreiben, was ihnen zu den einzelnen Lebensjahren einfiel. Ab dem 10. Lebensjahr hatte sie folgendes notiert: Schulwechsel. Mobbing durch Burschen. Weinen und Dauerbauchweh. ( Als ich nachfragte, wann sie geweint habe, sagte sie, teilweise in der Schule noch, teilweise habe sie sich zu Hause ausgeheult.)

13. Lebensjahr : Stress mit Schule […]

14. Lebensjahr : Viel Streit mit Eltern. Suizid. Depression. […] Ritzen. Magersucht.

In den Gesprächen mit Waltraud und Susanne kamen allmählich schwerwiegende Konflikte ans Tageslicht. Waltraud zeigte von Tag zu Tag mehr von ihren seelischen Verletzungen und ich erlebte sie immer mehr wie ein wundes Tier, das ständig in Fluchtposition stand. Ich bemühte mich sehr, ihr nicht zu nahe zu treten oder sie nicht zu kränken. Aus diesem Grund reflektierte ich mit ihr ständig ihre eigenen Prozesse, um Missverständnissen vorzubeugen. Sobald ich ihr zu nahe getreten war, wurde ihr Gesicht hart und verschlossen und ich benötigte alle Diplomatie, um meine Fehler wieder auszubügeln.

Magersucht

Zum Thema Magersucht erzählte sie mir, dass sie seit dem 12. Lebensjahr verschiedene Phasen der Magersucht durchlebt habe und diese im letzten Jahr wieder massiver aufgetreten seien. Ritzen würde sie seit Juni 2004. 

Zuhause habe sie zwar ein Einzelzimmer, ihre Mutter würde aber über ihre Sachen besser Bescheid wissen als sie selbst. Ihr Vater lasse ihre Sachen aber in Ruhe.

An diesem Tag hat Waltraud auf einem sehr großen Karton gemalt und geklebt. Es ist in kürzester Zeit eine Art Collage entstanden, die stark im Kontrast zu ihren perfektionistischen Arbeiten stand. Sie hat auf diesen Karton sämtliches Abfallmaterial aufgeklebt, das ihr untergekommen ist ( Alu-folie, Zeitungspapier…) und hat es mit Farbe voll gespritzt:

Ab nun stellte ich zu Beginn jeder Einheit ein Gespräch, in dem ich auch über meine eigenen Gefühle und Wahrnehmungen sprach.  Da sich die Eltern ihr gegenüber grenzüberschreitend verhielten und mit ihrer Intimsphäre missbräuchlich umgingen, war es für mich sehr wichtig, mit allen Informationen, die ich von ihr erhielt, äußerst sorgsam umzugehen. Ich war diesbezüglich sehr gefordert, alle Prozesse möglichst transparent zu halten und gleichzeitig ihre Intimsphäre zu wahren. Da auch sie immer wieder meine eigenen Grenzen abcheckte und sie zu überschreiten versuchte, ließ ich meine Stunden mit Waltraud sehr oft Supervidieren.  

Spaltung der Gefühle

Offensichtlich war Waltraud bereits in der ersten Klasse Volksschule emotional völlig überfordert und niemand hat ihre Gefühle ernst genommen. Aus diesem Grunde hat sie schon damals begonnen, sich zu spalten. Sie provoziert mich zum Beispiel, um herauszufinden wie ich reagiere, welche Gefühle ich habe, und wie ich mit meinen Gefühlen umgehe. Ich bin für sie ein Handlungsorientierungsmuster und muss ihr aber gleichzeitig auch Grenzen setzten.

Ihre Themen sind: „Kann man mit Gefühlen leben, indem man sie wahrnimmt und sie auch zeigt? Wo sind die Grenzen? Kann man wütend sein und trotzdem menschlich bleiben, indem man diese Wut artikuliert, ohne jemanden absichtlich oder unabsichtlich zu verletzen?“ In der Integrationsklasse hat sie gelernt, für Behinderte Verantwortung zu übernehmen. Jetzt muss sie aber lernen, für ihre eigenen Gefühle Verantwortung zu übernehmen.

Und meine Aufgabe ist es nun, sowohl ihre Identität/ ihre Persönlichkeit als auch ihr künstlerisches Potential zu fördern. 

Symbiose und Selbstwertgefühl

Das nächste Thema, das sich herauskristallisierte, war das Problem der Symbiose. Symbiose bedeutet, dem anderen emotional etwas abzunehmen, weil man seine eigenen Gefühle nicht wahrnehmen will oder kann. 

Das Ziel der Therapie sollte in weiterer Folge sein, ihre Freundin Susanne bewusst in diese Prozesse mit einzubeziehen, da sich ihre Freundschaft als sehr symbiotisch erwies. Eine gemeinsame Therapie der beiden Mädchen sollte den persönlichen Weg jeder einzelnen stärken und die Problematik einer symbiotischen Beziehung in ihr eigenes Bewusstsein rücken. Somit war es für mich auch wichtig, mit den Ärzten und Psychologen über ihre Arbeiten zu sprechen, da nur eine gemeinsame Lösungsstrategie zum Ziele führen konnte. Von nun an habe ich die beiden Mädchen sehr oft gemeinsam in die Therapie geholt, wodurch ich auch sehr wertvolle Erkenntnisse und Einsichten gewann. 

Waltraud begann sich immer schonungsloser zu öffnen. Eines Tages kam sie zu mir in die Therapie und sagte: „Am liebsten würde ich mir mein Gesicht herunter reißen.[…] Ich mag an mir eigentlich gar nichts.“ Ich fragte sie, was denn an ihr so schlimm sein würde. Sie antwortete: „Mein Aussehen, mein Charakter ; dass ich den anderen immer Sorgen und Probleme bereite, weil eigentlich steht mir das gar nicht zu.“

Dann fragte ich sie, was sie an ihr selbst mag : „ …dass sich Leute über Sachen freuen, die ich male oder sticke. Da bin ich vielleicht auch für etwas gut.“

Ich war offen gesagt sehr bestürzt darüber, dass sie der Meinung war, dass ihre handwerklich angefertigten Arbeiten das einzige sei, „was an ihr gut sei“ und womit sie anderen Leuten eine Freude machen würde. Das Selbstwertgefühl von Waltraud war ein einziger Scherbenhaufen.

Die Pubertät als wichtige Lebensphase

Ich besprach mit ihr wiederholt die Phase der Pubertät. Dass jeder Jugendliche lernen müsse, seinen eigenen Weg zu gehen und sich allmählich von den Eltern loslösen muss, um seine eigene Identität zu finden. Ich verglich es mit einer Raupe, die sich in ihrer Kindheit satt frisst, sich dann beginnt einzupuppen, um als Schmetterling ein neues Dasein zu beginnen. Sie, Waltraud, befinde sich nun im Puppenstadium und müsse daran arbeiten, diesen Kokon zu durchbrechen.

Waltraud wurde daraufhin sehr nachdenklich und erzählte mir erneut, dass ihre Mutter genauestens Bescheid wisse über ihre Sachen im Zimmer. Auf der Fahrt zur Therapeutin (im Auto) habe sie der Mutter das erste mal ihre Meinung gesagt. Sie sagte: „Mit meinen Eltern kann man nicht streiten. Mein Vater wird leicht wütend, wenn ich was sage. Er droht mir mit einer Tetschn. Oder er sagt: Das ist so, weil ich das so sage!… Ich sage dann okay und gebe meistens nach. Nach außen gebe ich mich völlig gleichgültig, dann wird mein Vater noch wütender. Er regt sich oft wegen Kleinigkeiten auf, das macht mich ebenfalls wütend. Monate später gehe ich zu meiner Mama und schimpfe über meinen Vater, über das, was er vor Monaten gesagt oder getan hat.“

Als ich sie fragte, was sie dazu beitragen könne, um diesen Zustand zu ändern erwiderte sie : „Ich will daran nichts ändern. Da ritze ich lieber wieder.“

Ich versuchte sie zu ermutigen, mit ihren Eltern ganz gezielt streiten zu lernen. Und zwar im Sinne eines produktiven Streites, in dem jeder die Möglichkeit hat, seine Meinung zu äußern ohne dabei gleich den andern ändern zu müssen.

Depression ist eingefrorene Wut

Am Ende dieses Gespräches kam Susanne zu uns in die Therapie und ich beschloss, mit ihnen gemeinsam ein abstraktes Bild zum Thema „Wut” zu gestalten.

Thema: „Die Krankheit heißt Depression und Depression ist eingefrorene Wut!“

Um diese Wut herauslassen zu können, muss das Eis aufgetaut werden. Was kann ich dazu beitragen, dass diese Wut endlich heraus kann?

 

Wenn aber das Eis schmilzt ...

Der Montag in der darauf folgenden Woche begann mit einer Teambesprechung im Beisein aller Ärzte und Psychologen. Bei dieser erfuhr ich von der Stationsschwester, dass sich Waltraud und Susanne so stark betrunken hatten, dass sie zu randalieren begannen und in weiterer Folge auf die geschlossene Station kamen. Nun seien sie wieder offen gelegt.

Ich holte mir beide Mädchen einzeln in die Therapie und befragte sie zu diesem Vorfall. Waltraud erzählte mir sehr freimütig und offen, dass sie zu dritt Ausgang gehabt hätten und dabei einiges an Alkohol konsumiert hätten. Als sie auf die Station zurück kamen, hatten sie 0,91 Promille Alkohol im Blut. Sie hatten sich dort so wild aufgeführt, dass man sie in die Geschlossene stecken wollte. Als sie in diesem Zuge auch voneinander getrennt werden sollten, zuckten beide aus. Susanne habe hysterisch geschrien und gekreischt und Waltraud habe ganz wild um sich geschlagen und die Pfleger getreten und gebissen. Das habe gereicht, um Waltraud ins Gurtenbett zu stecken. Sie habe in dieser Nacht fast gar nichts geschlafen. Nach dem Gurtenbett sei sie in die „Isolationszelle“ gekommen. Das war für sie sehr schlimm! Aber dass sie Julia nicht sehen konnte, das war das Schlimmste von allem. 

Nachdem sie den Vorfall sehr ausführlich beschrieben hat, fragte ich sie, worauf sie nun Lust habe. Sie nahm einen mittelgroßen Karton, hat ihn mit Dispersionsfarbe schwarz grundiert und anschließend die Reste ihrer Scoubidou- Schnüre mit Kleister auf das Blatt geklebt. 

Einen Tag später kamen beide Mädchen ganz zufällig fast gleichzeitig zu mir in die Therapie. Sie waren beide sehr deprimiert, weil sie seit dem Vorfall von letzter Woche ganz streng voneinander getrennt wurden. Sie wurden in verschiedene Zimmer verlegt und durften sich nur zu ganz bestimmten Zeiten sehen. Ich tröstete sie und sagte, dass in einer Woche bestimmt alles wieder ganz anders aussehen wird.

Zu Beginn der nächsten Einheit besprach ich mit Waltraud noch einmal sehr ausführlich, weshalb es bei ihr zu diesem „Raptus“ gekommen sei und dass es nun Ziel der Therapie sei zu lernen, sich von anderen Menschen abzugrenzen und Wut nicht so lange aufstauen zu lassen, bis sie wie ein Vulkan ausbricht.

Waltraud reagierte wie immer. Sie sagte : „Ich will mich nicht abgrenzen […], weil mir die anderen wichtiger sind als ich.“ Das sei auch gleichzeitig der Grund, weshalb sie ihre Gefühle nicht zeigen will […] , weil es den anderen nicht hilt, wenn sie sehen, dass es ihr schlecht geht. Sie möchte vielmehr den anderen helfen. Also tue sie immer so, als ob es ihr gut ginge. 

Ich resigniere beinahe vor soviel Starrsinn und erkläre ihr zum x-ten male, dass sie anderen nur helfen könne, wenn es ihr selber gut geht. Sie bleibt aber beharrlich bei ihrer Version, dass es ihr genüge, wenn sie den anderen helfen könne. 

Ich erkläre ihr, dass sie sich trotzdem damit auseinander setzen müsse, dass auch sie ihre Grenzen habe und ihre Grenzen kennen lernen und annnehmen müsse.

Die eigenen Grenzen anerkennen und akzeptieren

Arbeitsauftrag: „Ich versuche meine Grenzen anzunehmen. 

Die Zwangsjacke 

Waltraud entscheidet sich für das Thema „Zwangsjacke“, da ihr das Gurtenbett noch sehr gut in Erinnerung war. Das Bild von Gerhard, das ich soeben aufgehängt habe, faszinierte sie sehr. Sie sagte, das Bild würde sie an eine Zwangsjacke erinnern und sie habe noch nie in ihrem Leben eine so gelungene Darstellung von einer Zwangsjacke gesehen wie diese. Ich ermutige sie, eine ähnliche Darstellung anzufertigen. Sie begann, Zeitungspapier in Streifen zu zerreißen und diese mit Tapetenkleister aufzukleben. Anschließend hat sie diese mit einer relativ dicken Schicht Moltofill  und mit roter Farbe übermalen. Leider war sie mit ihrem Ergebnis nicht zufrieden. Sie sagte: „Das von Gerhard ist viel schöner geworden. Das möchte ich haben.“

1. Bild : von Gerhard

2. Bild : Zwangsjacke von Waltraud

Einen Tag später startete ich einen letzten Versuch. Ich ersuchte Waltraud, mir nicht böse zu sein; aber ich glaube, ich würde sie nicht ganz verstehen. Ob sie mir das mit der Maske noch einmal erklären könnte. Denn ich verstünde nicht ganz, was die Maske damit zu tun habe, dass sie jemand anderem helfen möchte. Denn auch ich möchte anderen Menschen helfen, würde dazu aber keine Maske benötigen.

Waltraud blickte mir sehr tief in die Augen und begann wieder von ihren Eltern zu erzählen: „Meine Mutter sagt immer, ich gebe so wenig und nehme nur. Sie hat gesagt, dass ich für sie verantwortlich sei. Sie geniert sich so, weil ich zum Pflegepersonal so unhöflich bin. Sie hat sich schon beim ganzen Pflegepersonal entschuldigt, weil sie sich so schämt. Mein Vater fragt mich immer aus und wenn ich nicht antworte, wird er gleich laut. Er quetscht mich immer über Sachen aus, die ihm nichts angehen und schreit mit mir, wenn ich nichts sage. Wenn ich frage, warum, dann antwortet er meist, ’Weil ich das so sage!’ oder ‚Weil ich das wissen will!’“

„Über welche Themen fragt er dich aus?“   Über das Trinken, Rauchen und Gasen“ :  z.B. „Was habt ihr getrunken, warum, wieso, mit wem, wie oft?….“  , „Wirst du das wieder tun?“, „Was glaubst du, was du damit deiner Familie antust?“, „Was glaubst du, wie deine Zukunft aussehen wird?“  "Und dann kommt noch ein Vortrag über die Sandler auf der Straße."

„Meine Mutter will unbedingt alle meine Freunde kennen lernen, damit sie weiß, ob sie für mich gut sind oder nicht. Und Susanne ist ein Problem für sie. Sie gibt ihr die Schuld, weil ich mich hier so schlecht benehme. Am Wochenende quetschen mich meine Eltern immer aus. Immer wenn wir im Auto fahren, nageln sie mich fest, weil ich nicht abhauen kann. Wenn wir zuhause streiten, laufe ich davon, wenn es mir zuviel wird. Dann gehen sie mir ins Zimmer nach und reden die ganze Zeit auf mich ein. […] Ich habe meine Freundinnen immer gemeinsam mit meiner Mutter ausgesucht. Sie will immer genau wissen, mit wem ich zusammen bin. Und wenn sie`s nicht weiß, flippt sie fast aus. Meine Eltern wollen immer ganz genau wissen was ich mache.“

Vom Schneiden und Ritzen

Es war mir inzwischen vollkommen klar, dass die Eltern auf Waltraud einen immensen Druck ausübten, indem sie sie auf Schritt und Tritt „kontrollierten“. 

Auch konnte ich beobachten, dass Waltraud dieses Verhaltensmuster bereits selbst übernommen hat und  auf ihre Freundin Susanne zeitweise ganz schön unter Druck ausüben konnte.

Gelegentlich sah ich mir ihre Arme und Hände genauer an. Sie zeigte mir eines Tages ihre neu erworbenen Narben, 24 Stück an der Zahl. Es handelte sich um Zigarettenstummel, die sie sich am Arm ausgedämpft hat. Ich fragte sie, ob sie diese Narben sammeln würde. Sie lachte nur dazu. Einige Zeit später hatte sie bereits 30 Stück davon!

Da ich Waltraud bezüglich Selbstverletzung sensibler machen wollte, fertigten wir von ihren Händen und Unterarmen Kopien an. Dies funktioniert ganz einfach, indem man die Arme in den Kopierer hineinlegt und mehrmals nachdreht; mit geballter Faust, gespreizten Fingern etc. Die Kopien entstanden auf einem DIN  A 3 Papier und waren sehr beeindruckend. Die Narben waren teilweise sehr gut zu erkennen.

Auch behandelte ich ihre Narben mit einer Heilsalbe, die ich zufällig mit hatte. Zuerst war es ihr sehr angenehm, dann meinte sie aber schon, dass sie eigentlich nicht will, dass die Narben heilen. Sonst bräuchte sie sich ja erst gar nicht zu verletzen… 

Ich fragte sie, ob sie möchte, dass ich ihre Hände mit den Narben auch fotografiere, nachdem wir sie bereits kopiert hatten. Sie war damit einverstanden. Ich habe sie aber mit diesen Fotografien noch nicht konfrontiert, da sie inzwischen eine sehr labile Phase hatte.

Erste Ablösungsprozesse und schrittweise Re-Integration

Waltraud und Susanne kommen nun schon wesentlich seltener und weniger zeitintensiv zu mir in die Therapie und es dürfte bereits ein erster Abnabelungsprozess in Richtung Freiheit und Selbständigkeit erfolgt sein. Sie nehmen beide an sehr vielen Außenaktivitäten teil und versuchen auch den Schulbesuch wieder aufzunehmen, was aber momentan nur schrittweise gelingt.

Schlusswort

Zusammenfassend kann ich folgendes festhalten:

Aus der Einzeltherapie mit Waltraud wurde allmählich eine „Paar-Therapie“. Und aus dem Fall „Waltraud A.“ wurde allmählich ein Fall „Waltraud und Susanne“. 

Ich hoffe, durch diese intensiven Einzel- und Partnerarbeiten wichtige Prozesse offen gelegt und beiden Mädchen einen Weg in ihre innere Freiheit und Unabhängigkeit geebnet zu haben.